Kreuze: Ein Hinrichtungsgerät als Symbol des Friedens?

Auf Berggipfeln, am Wegesrand, in Kirchen, Klassenzimmern, in öffentlichen Gebäuden und auch an Gold- oder Silberkettchen – an vielen Orten hängen oder stehen hierzulande Kreuze. Aber wie kann es sein, dass für viele Menschen der Anblick eines Gegenstandes, der ausschließlich den Zweck der Folter und qualvollen Hinrichtung hat, so selbstverständlich ist, dass Darstellungen nicht nur stillschweigend toleriert, sondern gar als „stimmungsvoll“ oder „schön“ empfunden werden? 

In diesem Beitrag soll es nicht um die grundsätzliche Frage nach der Sinnhaftigkeit einer Religion, sondern um die Diskrepanz zwischen einem grausamen Foltergerät auf der einen und dessen positiver Wahrnehmung und Auslegung auf der anderen Seite gehen (die Frage, was von einer Religion zu halten ist, die ein Hinrichtungswerkzeug als Erkennungszeichen gewählt hat, muss jeder für sich selbst klären).

Das Dilemma wird nachvollziehbarer, wenn man sich kurz folgendes Szenario vorstellt: Eine heute neu gegründete Bewegung, die Nächstenliebe und Mitmenschlichkeit postuliert, beauftragt eine Marketingfirma mit der Erstellung eines aussagekräftigen Logos. Wie wäre wohl die Reaktion, wenn beim Kick-Off stolz die symbolhafte Darstellung einer Handgranate oder einer Tretmine präsentiert würde? Unvorstellbar?

Man geht davon aus, dass die Einführung des Kreuzes als Symbol für das Christentum auf das Konzil von Ephesos zurückgeht – 431 nach Christi Geburt, zu einer Zeit, in der der Kreuzigungstod als Hinrichtungsmethode abgeschafft war. Was mag die Menschen damals dazu bewogen haben? Das Kreuz sei eine Erinnerung an den Opfertod Jesu, war eine der Antworten bei meiner Online-Umfrage unter Menschen, die Bilder von Kreuzen als „stimmungsvoll“ empfinden.

Nun waren Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe damals wahrscheinlich noch nicht die vorrangigen Ziele, vielmehr stand die Verbreitung des Glaubens unter den Nicht- und Andersgläubigen im Vordergrund. Die Folge: Massenmorde, Genozide in Form von Kreuzzügen (sic!) – im Namen Gottes, im Zeichen des Kreuzes, das hierzu natürlich tatsächlich wesentlich besser passte als irgendein Friedenssymbol.

Das Kreuz steht also für den Tod – nicht nur den Tod Jesu, sondern auch den Tod aller, die im Namen des Kreuzes getötet wurden. Noch heute wird z.B. auf Grabsteinen das Sterbedatum mit einem Kreuz gekennzeichnet. Der Tod spielt eine (wenn nicht sogar die) zentrale Rolle im Christentum (zur gleichen Einsicht kam z.B. auch Georg Kreisler 1971 in „Der Zweck der Kirche“). Das Kreuz symbolisiert den Tod, nicht etwa die Auferstehung.

Kurzum: Aus damaliger Sicht war das Kreuz tatsächlich ein zu den damaligen Zielen passendes Symbol. Aber heute? Nachdem ungezählte Menschen im Namen (des angeblich richtigen) Gottes ermordet worden waren (auch heute werden Menschen im Namen (des angeblich richtigen) Gottes ermordet, was auf die Anhänger des früheren angeblich richtigen Gottes heute sehr verstörend und nicht nachvollziehbar wirkt), gab es Zeiten, in denen der Einfluss der Kirchen schwächer war und in denen sich Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe als erstrebenswerte Ziele in der Gesellschaft durchsetzen und etablieren konnten. Nach und nach eignete sich die Kirche diese Errungenschaften an und änderte damit ihre Ausrichtung quasi um 180 Grad – von mordenden, plündernden Missionaren hin zu einer Friedensbewegung. Missioniert wurde jetzt nicht mehr mit dem Schwert, sondern mit dem Wort – nach wie vor im Zeichen des Kreuzes.

Die martialischen, Menschen verachtenden Aussagen der Bibel (einst als Begründung und Rechtfertigung für ungezählte Morde hergenommen)  wurden relativiert oder ignoriert, Aspekte, die die neue, mitmenschliche Ausrichtung stützen dafür verstärkt und herausgestellt. Heute würde man wohl von „reframing“ sprechen, also von einer Umdeutung der Inhalte, um ein bestimmtes Bild zu erzeugen. Die Bibel ist in dieser Hinsicht sehr flexibel – ein Massenmord lässt sich damit genauso rechtfertigen wie menschliches Miteinander und Nächstenliebe.

Zurück zum Thema: Wie schafft es ein aufgeklärter, erwachsener und geistig gesunder Mensch im 21. Jahrhundert, den Widerspruch zwischen der Realität eines brutalen Hinrichtungsgerätes auf der einen und seiner vermutlich von Nächstenliebe und Frieden geprägten Einstellung auf der anderen Seite zu ertragen? Auf diese Frage habe ich bis jetzt noch keine wirklich brauchbare Antwort bekommen.

Den meisten Leuten scheint dieser Widerspruch gar nicht als solcher bewusst zu sein. Mögliche Gründe dafür könnten Gleichgültigkeit, Ignoranz, Gewöhnung oder aktive Verdrängung sein. Betrachtet man die gesamte Bevölkerung unabhängig von deren Glaubenszugehörigkeit, ist Gleichgültigkeit wahrscheinlich die häufigste Ursache. Wer sich sonst keine diesbezüglichen Gedanken macht, macht sich auch darüber wahrscheinlich keine.

Interessanter wird es, wenn man Leute fragt, die sich mit Kreuz-Darstellungen nicht nur abgefunden haben, sondern diese sogar „schön“ und „stimmungsvoll“ finden. Für diese Leute ist es natürlich noch schwieriger, sich eine Argumentation so hinzubiegen, dass sie das Kreuz als geeignetes Symbol rechtfertigt. Da ist dann von der symbolischen Darstellung von Verbindungen zwischen Menschen, Himmel und Erde die Rede (da hatten z.B. die Prä-Inka-Kulturen oder die Ägypter aber mehr drauf, um das darzustellen…). Und schließlich würden ja auch viele Nicht-Christen ein Kreuz als Schmuck tragen.

Öfters habe ich eine Kombination aus Gewöhnung und Verdrängung angetroffen. Das Bild des Kreuzes war für diese Leute wahrscheinlich schon seit der Geburt präsent. Selbst detaillierte, (über-) lebensgroße, erschreckend realistische Darstellungen eines beinah zu Tode gequälten Menschen scheinen sich durch eine rechtzeitig begonnene, kontinuierliche Indoktrination so einzuprägen, dass dieses makabere Bild später nie mehr hinterfragt wird. Darauf angesprochen, reagieren diese Menschen meist beleidigt und verärgert – man solle froh sein, dass „wir“ uns damals für das Kreuz und nicht für den Halbmond entschieden hätten. Sie verstehen nicht (oder wollen nicht verstehen), dass es nicht um die (heutigen) Werte des „christlichen“ Abendlandes, sondern darum geht, was ein Kreuz tatsächlich ist und dass es wohl kaum ein passendes Symbol für eine friedliebende Gesellschaft im 21. Jahrhundert sein kann.

Wie man es schafft, dass Menschen, die bei Konfrontation mit Leid und Todesqual adäquat und erwartungsgemäß mit Schauder, Erschrecken, Empathie oder Verstörung reagieren, ausgerechnet (mehr oder weniger realistische) Darstellungen von extremem Leid eines Gekreuzigten bzw. die symbolische Darstellung eines Kreuzes als „schön“ oder „stimmungsvoll“ empfinden, bleibt mir jedenfalls nach wie vor unklar und nicht nachvollziehbar.

Andererseits glauben diese Leute ja aber auch an die Verwandlung von Brot in (menschliches) Fleisch und Wein in (menschliches) Blut zum Zwecke des Verzehrs und daran, eines Tages erlöst zu werden. Schon aus Marketing-technischer Sicht wäre es sicher mal interessant zu untersuchen, wie man im 21. Jahrhundert Menschen klaren Verstandes dazu bringt, so etwas zu glauben, egal ob es als real oder symbolisch gemeint sein soll.